Wer sich in Gefahr begibt – ist nicht immer selbst schuld
Wer sich in Gefahr begibt – ist nicht immer selbst schuld
Selbst wenn ein Fußgänger erkannt hat, dass eine Gefahr wegen Glatteis droht, kann noch nicht von einem überwiegenden Mitverschulden ausgegangen werden, wenn er die gefährliche Stelle betritt. Von einem überwiegenden Mitverschulden kann nur ausgegangen werden, wenn das Verhalten des Fußgängers für neutrale Dritte unverständlich-sorglos ist. Zu diesem Ergebnis kommt der Bundesgerichtshof (BGH) in einem vor Kurzen ergangenen Urteil.
Der BGH hatte über einen Fall zu entscheiden, der sich bereits im Dezember 2010 zugetragen hatte. Eine Kommune hatte den über Nacht und am Vortag gefallenen Schnee am nächsten Tag weder geräumt noch abgestreut. In der gesamten Fußgängerzone bildete sich deshalb Schneematsch, auf dem eine Fußgängerin stürzte. Die Passantin verlangte nun Schmerzensgeld von der zuständigen Kommune und versuchte dies einzuklagen.
Doch sowohl das Land- wie auch das Oberlandesgericht lehnten ihren Antrag ab. Das Oberlandesgericht räumte zwar ein, dass eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht seitens der Kommune vorliege. Die Richter stellten jedoch fest, dass die gestürzte Passantin ein überwiegendes Mitverschulden treffe. Da sie erkennen konnte, wie gefährlich es wäre, die Fußgängerzone zu betreten, hätte sie dies unterlassen müssen. Dieses Mitverschulden sei höher einzuschätzen als die Pflichtverletzung der Kommune.
Die Passantin ging in Revision und erhielt vom BGH Recht. Die Richter stellten fest, dass ein Schadenersatzanspruch wegen der Amtspflichtverletzung der Kommune bestehe. Ein überwiegendes Mitverschulden der Passantin sahen die Richter im vorliegenden Fall aber nicht.
Der BGH stellte fest, dass man aus der Kenntnis der Gefahrenlage nicht grundsätzlich ableiten könne, dass daraus ein Mitverschulden entstehe, welches die Haftung der Kommune ausschließe. Auch wenn man davon ausginge, dass sich die Passantin einer ihr bekannten Gefahr ausgesetzt habe, obwohl dies nicht zwingend notwendig war, könne dies nicht zum Haftungsausschluss der Kommune führen.
Ein Haftungsausschluss bei einer durch den Geschädigten erkannten Gefahrenlage stehe im Widerspruch zum Sinn und Zweck der Verkehrssicherungspflicht. Von einem Mitverschulden, das die Haftung des zur Verkehrssicherungspflicht Zuständigen ausschließe, könne nur ausgegangen werden, wenn das Verhalten des Geschädigten als unverständlich sorglos angesehen werden müsse. Diese Situation sah der BGH im vorliegenden Fall aber nicht als gegeben an.
Urteil des Bundesgerichtshofs vom 20.06.2013 – Aktenzeichen III ZR 326/12