Das Bundesarbeitsgericht hat klargestellt, dass Arbeitnehmer nicht in allen Fällen ein „Recht auf Unerreichbarkeit“ in ihrer Freizeit haben. In bestimmten Fällen müssen sie Nachrichten des Arbeitgebers mit Vorgaben zu Dienstbeginn und Arbeitszeiten auch nach Dienstschluss zur Kenntnis nehmen. Ein Freibrief für Unternehmen ist das Urteil allerdings nicht.
SMS nicht beachtet: Der Notfallsanitäter kommt zu spät zum Dienst
Ein Notfallsanitäter aus Schleswig-Holstein versäumte es zweimal, Nachrichten seines Arbeitgebers zu lesen. Darin ging es um die „Konkretisierung“ des Dienstbeginns bei Einsätzen als Springer. Die SMS- und E-Mail-Nachrichten wurden ihm jeweils am Tag vor den Springer-Diensten zugeschickt, und zwar in seiner Freizeit. Sie teilten dem Sanitäter mit, zu welcher genauen Uhrzeiten und in welcher Rettungswache er am Folgetag arbeiten sollte. Zuvor war ihm der Springer-Dienst nur allgemein zugewiesen worden, mit einem Arbeitsbeginn zwischen sechs und neun Uhr.
Da der Mann weder die Mitteilungen las noch telefonisch erreichbar war, kam er zweimal zu spät zu den Einsätzen. In einem der Fälle erschien er zudem in der falschen Rettungswache und wurde vom Arbeitgeber wieder nach Hause geschickt. Das Unternehmen zog dem Mann fast 12 Arbeitsstunden von seinem Arbeitszeitkonto ab und sprach zudem eine Abmahnung aus. Der Notfallsanitäter wehrte sich gegen diese Sanktionen vor Gericht.
Erfordert das Lesen einer SMS in der Freizeit eine „Arbeitsleistung“?
Vor dem Arbeitsgericht Elmshorn als erster Instanz erlitt der abgemahnte Mitarbeiter eine Niederlage. Dagegen lief es für ihn vor dem Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein als zweiter Instanz zunächst recht gut: dort wurde der Arbeitgeber dazu verurteilt, die Abmahnung zurückzunehmen und dem Arbeitnehmer die strittigen 11,75 Arbeitsstunden gutzuschreiben. In seiner Freizeit stehe dem Mitarbeiter ein „Recht auf Unerreichbarkeit“ zu, urteilte das Landesarbeitsgericht, denn in der Freizeit fungierten Arbeitnehmer nicht als Arbeitskraft. Trotz des geringen Zeitaufwands sei das Lesen einer dienstlichen SMS Arbeitszeit. Das Unternehmen habe von dem Notfallsanitäter somit eine Arbeitsleistung in dessen Freizeit erwartet. Dazu war der Mann nach Ansicht der Richter am LAG nicht verpflichtet (LAG Schleswig-Holstein, 27.09.2022 – 1 Sa 39 öD/22).
Diese Sichtweise konnte das Bundesarbeitsgericht in Erfurt als dritte und oberste Instanz nicht überzeugen. Das BAG hob das Urteil der Vorinstanz auf und gab dem Arbeitgeber recht: die Abmahnung blieb bestehen, die strittigen Arbeitsstunden mussten nicht bezahlt werden (BAG, 23.08.2023 – 5 AZR 349/22).
Urteil des Bundesarbeitsgericht: Kein uneingeschränktes Recht auf Unerreichbarkeit in der Freizeit
Für die Richter am Bundesarbeitsgericht wurde die Ruhezeit des Notfallsanitäters durch ein Lesen der Arbeitgeber-SMS nicht unterbrochen. Die Kenntnisnahme sei „zeitlich derart geringfügig“, dass die Freizeit nicht beeinträchtigt worden wäre. Der Mann musste weder dauerhaft erreichbar sein noch war er zu einer aktiven Antwort verpflichtet. Wann er die SMS genau abrief, blieb ihm überlassen. In dem Lesen der Mitteilung eine Form von Arbeitszeit zu sehen, wie das Landesarbeitsgericht es getan hatte, war für das Bundesarbeitsgericht „rechtsfehlerhaft“.
Allerdings war für die Erfurter Richter noch ein weiterer Punkt zentral: Dass die genaue Lage von Springerdiensten erst kurz vorher „konkretisiert“ wurde, spätestens bis 20 Uhr am Vortag, ergab sich aus einer Betriebsvereinbarung zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber. Diese war für den Notfallsanitäter bindend. Deshalb war es für ihn eine arbeitsvertragliche Nebenpflicht, die Mitteilungen des Arbeitgebers zur genauen Lage solcher Dienste zur Kenntnis zu nehmen. Da er diese Pflicht versäumt hatte, war die Abmahnung berechtigt. Außerdem konnte der Arbeitnehmer nicht fordern, dass ihm die versäumten Arbeitsstunden auf seinem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben und vergütet wurden.
Fazit für Arbeitgeber: Nachrichten an Mitarbeiter in deren Freizeit sind in engen Grenzen möglich
- Arbeitgeber können die Urteilsbegründung des Bundesarbeitsgericht als Bestätigung dafür nehmen, dass nicht jede Mitteilung an Mitarbeiter außerhalb der Arbeitszeit von den Empfängern schlicht ignoriert werden kann. Allerdings sollte es für solche Nachrichten eine verbindliche Grundlage geben, beispielsweise eine Vorgabe im Arbeitsvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung.
- Außerdem dürfen die Nachrichten keine Dauerbereitschaft durch die Hintertür einführen. Der Arbeitgeber kann nicht erwarten, dass Mitarbeiter in ihrer Freizeit ständig auf Empfang sind und umgehend aktiv antworten oder reagieren. Freizeit muss Freizeit bleiben.
Gerade um das Ineinanderfließen von Arbeitszeit und Freizeit zu verhindern, haben der Europäische Gerichtshof und im Anschluss daran das Bundesarbeitsgericht die Pflicht zur Erfassung aller Arbeitszeiten bekräftigt. Eine entsprechende Gesetzesänderung ist in Vorbereitung. Mehr dazu steht im Beitrag „Gesetzliche Regelungen zur Arbeitszeiterfassung: das steht im geplanten neuen Arbeitszeitgesetz“. - Die Entscheidung des BAG gilt nicht für Arbeit auf Abruf. Das haben die Richter sehr deutlich gemacht. Bei diesem Beschäftigungsmodell muss die Mitteilung der Arbeitszeiten spätestens vier Tage vorher erfolgen, um verbindlich zu sein. Das ist gesetzlich festgelegt. ( 12 Abs. 3 Teilzeit- und Befristungsgesetz). Weitere Stolperfallen erläutert der Beitrag „Arbeit auf Abruf: Ohne Arbeitszeitfestlegung droht Phantomlohn“.
- Ganz wichtig: Arbeitnehmer haben Anspruch darauf, dass der Arbeitgeber ihre Arbeitszeiten absolut genau und verlässlich verwaltet. Auch das steht noch einmal ausdrücklich in der BAG-Entscheidung. Eine rechtskonforme und zeitgemäße digitale Arbeitszeitverwaltung mit vielen weiteren Funktionen zur Personalverwaltung bietet WISO MeinBüro Personal.